12.08.2021
Jakub Hrůša, in Brünn geboren, zählt zu den erfolgreichsten Dirigenten seiner Generation. Ob Wiener oder Berliner Philharmoniker, Cleveland Orchestra oder Chicago Symphony Orchestra, ob Wiener Staatsoper, Covent Garden Opera oder Opéra National de Paris – überall ist er ein gern gesehener Gast. Mit dem hochgebildeten, sich bescheiden gebenden Musiker sprach Peter Blaha.
Im vergangenen Juni haben Sie mit den Wiener Philharmonikern Smetanas Mein Vaterland aufgeführt. Zweimal blieb danach das Orchester sitzen, um Ihnen gemeinsam mit dem Publikum Applaus zu spenden. Wenn man die Rituale der Wiener Philharmoniker kennt, weiß man, welch hohe Wertschätzung die Musiker*innen damit zum Ausdruck brachten. Wie erlebten Sie die Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern?
Ich habe das Orchester 2015 in der Wiener Staatsoper zum ersten Mal dirigiert, Janáčeks Věc Makropulos stand auf dem Programm, ein schwierig zu spielendes und kompliziertes Stück. Trotzdem verlief die Zusammenarbeit sehr gut. Aber die beiden Konzertprogramme, die ich mit den Wiener Philharmonikern bisher dirigieren durfte, 2019 mit Bartók und Tschaikowski und nun Smetanas Mein Vaterland, haben meine Arbeit an der Oper noch übertroffen, menschlich wie auch musikalisch. Was ich dem Orchester angeboten habe, wurde von diesem angenommen, die Energie zwischen uns floss ganz natürlich. Wenn man vor diesem großartigen Orchester steht, spürt man das Potenzial, das in ihm steckt. Wenn es will, kann es schier Unmögliches leisten. Ich spürte, das Orchester will es, was für mich ein großes Geschenk gewesen ist. Ich fühle mich als Mitglied der Familie willkommen.
Die beiden Konzertserien, die Sie bisher mit den Wiener Philharmonikern dirigiert haben, waren ursprünglich Termine von Mariss Jansons, der genau an dem Wochenende verstarb, als Sie für ihn einspringend erstmals philharmonische Abonnementkonzerte leiteten. Was bedeutete er Ihnen?
Es gibt verschiedene Typen von Dirigenten, alles tolle Menschen, denen man mit Hochachtung begegnet. Unter diesen gibt es jedoch einige, die einem vom Naturell her nahestehen. So ein Dirigent war für mich Mariss Jansons. Ich bin natürlich ein völlig anderer Mensch als er, ich war auch nicht sein Schüler und habe ihn persönlich nur ein einziges Mal in meinem Leben getroffen. Er hat es verstanden, tolle und präzise Arbeit mit großer menschlicher Wärme zu vereinen. Die Präzision stand bei ihm stets im Dienst der Musik. Darin ist er mir ebenso ein Vorbild wie in der Entwicklung seiner Karriere. Als ich das erste Konzert an jenem Wochenende 2019 leitete, weilte er noch unter uns. Dann ist er leider gestorben, was für mich total schwierig war. Es war ein seltsames Gefühl, anstelle dieses großartigen Dirigenten dort am Pult zu stehen. Andererseits war es auch eine Art Symbol, eine Herausforderung, die Qualitäten, die er repräsentierte, weiterzutragen zu versuchen.
Seit 2016 sind Sie Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, ein Orchester, das seine Wurzeln in Tschechien hat. Es wurde 1946 aus Musikern gegründet, die aufgrund der Beneš-Dekrete Tschechien verlassen mussten und nach Deutschland gekommen sind. Wenn man sich alte Aufnahmen unter dem ersten Chefdirigenten Joseph Keilberth anhört, kann man diese tschechischen Wurzeln noch hören. Wie ist das heute? Sind diese Wurzeln noch spürbar oder ist es ein deutsches Orchester?
Beides trifft zu. Die Bamberger Symphoniker waren schon bei ihrer Gründung ein deutsches Orchester mit böhmischen Genen. Als ich erstmals mit diesem Orchester tschechische Musik dirigierte, hatte ich den Eindruck, es könne nicht nur an mir liegen, dass es bei diesem Repertoire auf Anhieb schneller funktioniert als mit jedem anderen Orchester. Es gibt etwas in diesem Orchester, das überlebt hat. Auf der anderen Seite ist es natürlich kein tschechisches Orchester. Es klingt anders als beispielsweise die Tschechische Philharmonie. Wenn es unter unserem Ehrendirigenten Herbert Blomstedt oder einem anderen Dirigenten spielt, wird wohl niemand sagen, das sei ein tschechischer Klang. Dieses Orchester ist unglaublich flexibel und offen, Verschiedenes auszuprobieren. Aber die Beziehung zur tschechischen Kultur ist nach wie vor vorhanden. Wir haben unlängst nach längerer Zeit wieder Die Moldau gespielt. Schon in der ersten Probe war ich so beeindruckt von der Fähigkeit, die böhmische Atmosphäre herzustellen. Das war sehr berührend.
Ihr Vorgänger Jonathan Nott hat das Repertoire in Richtung zeitgenössischer Musik erweitert. Er hat Wagners Ring des Nibelungen aufgeführt und auf CD einen hochgerühmten Mahler-Zyklus vorgelegt. Welche Akzente wollen Sie setzen?
Wir verfolgen vier Schwerpunkte. Da wäre zum einen das Hauptrepertoire zwischen Mozart und Beethoven sowie Strauss und Mahler als Eckpunkte. Das ist Musik, die das Orchester gerne spielt. Zum anderen widmen wir uns mit großer Freude dem slawischen, auch dem russischen Repertoire, das vielleicht nicht zu Jonathan Notts Favoriten zählte. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne auch das 20. Jahrhundert miteinbeziehen. Ich denke da vor allem an Prokofjew, Schostakowitsch und Strawinski, aber neben den Slawen auch an Bartók. Weiters liegt mir zeitgenössische Musik am Herzen, für die wir bisher aus organisatorischen Gründen allerdings noch zu wenig Zeit hatten. Der vierte Schwerpunkt gilt Entdeckungen. Ich mag es sehr gerne, wenn ich dem Orchester Stücke bringen kann, die es noch nie gespielt hat. Es gibt viele tolle Werke, zum Beispiel von Josef Suk oder von Josef Bohuslav Foerster, der mit Mahler befreundet war. Und wir machen die Sinfonie von Hans Rott. Solche Dinge bereiten mir Spaß. Einerseits handelt es sich dabei um Premieren, andererseits spricht diese Musik in einem Idiom, welches das Orchester gut kennt. Daher muss man sich nicht lange mit technischen Fragen aufhalten und kann früher anfangen, zu musizieren.
Mit der Sinfonie von Hans Rott gastieren Sie auch im Brucknerhaus Linz. Ist das Ihre erste Begegnung mit dem Stück und welche Bedeutung hat diese für Sie? Ist sie das Missing Link zwischen Bruckner und Mahler?
Es ist meine erste Begegnung als Dirigent, aber ich beschäftige mich mit dieser Sinfonie schon länger. Eigentlich habe ich sie durch Zufall entdeckt. Ich habe mit den Bamberger Symphonikern Bruckners 4. Sinfonie gemacht. Das war meine erste beglückende Erfahrung mit Bruckner. Vorher hatte ich seine Musik mit verschiedenen Orchestern gerne probiert, was aber keinen Spaß machte, da diese Orchester sie nicht wirklich genug lieben. Das kann dann schnell zur Qual für den Dirigenten werden. Aber mit den Bamberger Symphonikern hat es wunderbar funktioniert. Ich war so fasziniert, dass ich mich intensiv mit Bruckner zu beschäftigen begann. In diesem Zusammenhang habe ich auch über seine Tätigkeit als Lehrer gelesen und mir die Frage gestellt, wie die Musik von Bruckners Schülern klingt. Da bin ich auf Hans Rott gestoßen, habe mir eine Aufnahme seiner Sinfonie besorgt und war auf Anhieb fasziniert. Diese Faszination resultierte nicht aus intellektuellen Überlegungen, sondern ergab sich ganz unmittelbar. Staunend öffnete ich den Mund angesichts dieser Musik. Was ist das? Vor Mahler diese Mahlerʼschen Klänge? Danach erst stellte ich fest, dass schon Mahler Rott geschätzt hat. Eigentlich hat Mahler die Nische, die Rott entdeckt hatte, genial benutzt und weiterentwickelt. Ich war erstaunt, dass nur wenige Musiker Hans Rott kennen. Daher habe ich den Entschluss gefasst, diese Musik mit den Bamberger Symphonikern gemeinsam zu entdecken.
Auf dem Programm beim Brucknerfest stehen auch Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen. Auf die Frage nach Ihrem Repertoire in Bamberg sollen Sie gesagt haben: Mahler muss sein! Warum ist er Ihnen so wichtig?
Warum ist Mahler überhaupt wichtig? Er ist ein Höhepunkt der Sinfonik, in technischer wie in geistiger Hinsicht. Er hat die Möglichkeiten des Orchesters stark erweitert. In diesem Stil konnte es nicht weitergehen, Mahler war ein Endpunkt. Mich würde sehr interessieren, wie Mahler, hätte er länger gelebt, 20 Jahre später komponiert hätte. Das wäre total faszinierend. Mahler ist für mich persönlich, wie auch für viele andere Kollegen, der ausschlaggebende Grund, überhaupt Dirigent geworden zu sein. Es gibt zwei Optionen: Seine Musik total zu meiden, wie das bei Celibidache oder Harnoncourt der Fall war, oder man taucht voll in diesen Kosmos ein. Mahler ist meiner Meinung nach anders als der späte Beethoven oder Bruckner, ja sogar Brahms. Mahler ist so unmittelbar, so kommunikativ, dass man schon als junger Mensch zu dieser Musik einen Draht findet. Man braucht nicht zu warten, bis man 70 Jahre alt ist, um diese Musik zu verstehen. Man versteht als junger Mensch vielleicht noch nicht all ihre Facetten und all ihre Tiefen, aber das Wesentliche erschließt sich. Besonders dank Jonathan Nott haben die Bamberger Symphoniker eine Mahler-Tradition. Seine Musik nicht zu spielen, wäre fast ein Verbrechen, trägt sie doch zur Identität des Orchesters bei. Denn auch Mahler wurde in Böhmen geboren. Wir machen eine oder zwei Sinfonien pro Jahr, wobei ich Mahler nicht für mich reserviere. Ich finde es dumm von manchen Chefdirigenten, bestimmte Werke nur für sich selbst zu blocken. Diese Exklusivität ist mir fremd. Wenn unser Ehrendirigent Herbert Blomstedt oder ein Gastdirigent wie Andris Nelsons Mahler spielen möchten, überlasse ich ihnen gerne den Vortritt.
Tschechien ist reich an großen Dirigenten, ob das Talich, Kubelík, Ančerl, Neumann, Bělohlávek, Krombholc, Košler, Chalabala, Šejna oder in Brünn Bakala und Jílek sind. Sie setzen diese große Tradition nun fort. Wieso hat Tschechien, gemessen an seiner Einwohnerzahl, so viele bedeutende Dirigenten hervorgebracht?
Sie haben mich jetzt sehr glücklich gemacht, weil Sie nicht nur die bekannten Namen, sondern auch andere nannten, die ich sehr schätze, die normalerweise aber kaum noch jemand kennt, zum Beispiel Chalabala, Bakala oder Jílek. Von František Jílek habe ich mir erst vor Kurzem wieder ein paar Aufnahmen angehört. Er hätte heute wahrscheinlich nur sehr schwer Erfolg. Er war ein bescheidener Mann, der sich medial nicht ins Rampenlicht stellte, aber fantastisch toll gearbeitet hat. Ich möchte aber bemerken, dass zum Beispiel auch aus Ungarn viele große Dirigenten stammen.
Das stimmt, doch machten diese, wie Szell, Reiner, Ormandy oder Solti, nicht in ihrer Heimat Karriere, sondern im Westen, vor allem in den USA.
Da haben Sie recht. Vielleicht hängt die Fülle großer Dirigenten in Tschechien damit zusammen, dass wir, gemessen an der Größe des Landes, viele Orchester und Opernhäuser haben. Man kann sehr gut arbeiten und hat die Möglichkeit, sich zu entwickeln. In Österreich ist es ähnlich. In Wien wird klassische Musik immer noch wichtig genommen, wie auch in Tschechien. Das hat sich in der Pandemie gezeigt. Ich habe mit der Tschechischen Philharmonie einige Streams im Fernsehen gemacht. Ich war positiv schockiert, als wir Elgars Cellokonzert und Suks Sommermärchen gespielt haben. An sich ist das ein unpopuläres Programm, das in der Waldbühne nie die Ränge füllen würde. Doch im Fernsehen sind dem mehr als 50.000 Menschen ohne Unterbrechung gefolgt. Ich kann natürlich nichts über die Qualität des Hörens sagen, dennoch finde ich diese Zahl bemerkenswert. Wenn ich Kollegen davon erzähle, beneiden sie uns. Vielleicht hängt der Stellenwert der klassischen Musik auch mit der unglücklichen politischen Situation zur Zeit des Kommunismus zusammen. Man ist nicht viel gereist, sondern hat vor allem lokal gearbeitet. Das tolle Archiv von Supraphon (Tschechiens traditionsreiches Plattenlabel, Anm. d. Red.) zeugt davon. Auch die Ausbildung war toll. Mit meinem Lehrer Jiří Bělohlávek erlebte ich fantastische Jahre an der Akademie der darstellenden Künste in Prag. Er hat das Unterrichten sehr ernst genommen. All das sind Versuche, die Fülle an Dirigenten in Tschechien zu erklären. Ob das wirklich so ist, kann ich aber nicht sagen.